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Ⅰ.
Georg Simmel

The Ruin

Text: Georg Simmel
Illustration: Ivo Škuta
English translation: David Kettler

Die Ruine

Der große Kampf zwischen dem Willen des Geistes und der Notwendigkeit der Natur ist zu einem wirklichen Frieden, die Abrechnung zwischen der nach oben strebenden Seele und der nach unten strebenden Schwere zu einer genauen Gleichung nur in einer einzigen Kunst gekommen: in der Baukunst. Die Eigengesetzlichkeit des Materials in der Poesie, Malerei, Musik muss dem künstlerischen Gedanken stumm dienen, er hat in dem vollendeten Werk den Stoff in sich eingesogen, ihn wie unsichtbar gemacht. Selbst in der Plastik ist das tastbare Stück Marmor nicht das Kunstwerk; was zu diesem der Stein oder die Bronze an Eigenem dazugeben, wirkt nur als ein Ausdrucksmittel der seelisch-schöpferischen Anschauung. Die Baukunst aber benutzt und verteilt zwar die Schwere und die Tragkraft der Materie nach einem nur in der Seele möglichen Plane, allein innerhalb dieses wirkt der Stoff mit seinem unmittelbaren Wesen, er führt gleichsam jenen Plan mit seinen eigenen Kräften aus. Es ist der sublimste Sieg des Geistes über die Natur – wie wenn man einen Menschen so zu leiten versteht, dass unser Wollen von ihm nicht unter Überwältigung seines eigenen Willens, sondern durch diesen selbst realisiert wird, dass die Richtung seiner Eigengesetzlichkeit unsern Plan trägt.

Diese einzigartige Balance zwischen der mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstrebenden Materie und der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit zerbricht aber in dem Augenblick, in dem das Gebäude verfällt. Denn dies bedeutet nichts anderes, als dass die bloß natürlichen Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen: die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt; denn jetzt erscheint der Verfall als die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde angetan hat. Der ganze geschichtliche Prozess der Menschheit ist ein allmähliches Herr werden des Geistes über die Natur, die er außer sich – aber gewissem Sinne auch in sich – vorfindet. Hat er in den anderen Künsten die Formen und Ereignisse dieser Natur seinem Gebote gebeugt, so formt die Architektur deren Massen und unmittelbar eignen Kräfte, bis sie wie von sich aus die Sichtbarkeit der Idee hergeben. Aber nur solange das Werk in seiner Vollendung besteht, fügen sich die Notwendigkeiten der Materie in die Freiheit des Geistes, drückt die Lebendigkeit des Geistes sich in dem bloß lastenden und tragenden Kräften jener restlos aus. In dem Augenblick aber, wo der Verfall des Gebäudes die Geschlossenheit der Form zerstört, treten die Parteien wieder auseinander und offenbaren ihre weltdurchziehende ursprüngliche Feindschaft: als sei die künstlerische Formung nur eine Gewalttat des Geistes gewesen, der sich der Stein widerwillig unterworfen hat, als schüttle er dieses Joch nun allmählich ab und kehre wieder in die selbständige Gesetzlichkeit seiner Kräfte zurück.

Aber damit wird dennoch die Ruine zu einer sinnvolleren, bedeutsameren Erscheinung, als es die Fragmente anderer zerstörter Kunstwerke sind. Ein Gemälde, von dem Farbteilchen abgefallen sind, eine Statue mit verstümmelten Gliedern, ein antiker Dichtertext, aus dem Worte und Zeilen verloren sind – alle diese wirken nur nach dem, was noch an künstlerischer Formung an ihnen vorhanden ist oder was sich von ihr, auf diese Reste hin, die Phantasie konstruieren kann: ihr unmittelbarer Anblick ist keine ästhetische Einheit, er bietet nichts als ein um bestimmte Teile vermindertes Kunstwerk. Die Ruine des Bauwerks aber bedeutet, dass in das Verschwundene und Zerstörte des Kunstwerks andere Kräfte und Formen, die der Natur, nachgewaschen sind und so aus dem, was noch von Kunst in ihr lebt und dem, was schon von Natur in ihr lebt, ein neues Ganzes, eine charakteristische Einheit geworden ist. Gewiss ist vom Standpunkt des Zweckes aus, den der Geist in dem Palast und der Kirche, der Burg und der Halle, dem Aquädukt und der Denksäule verkörpert hat, ihre Verfallsgestalt ein sinnloser Zufall; allein ein neuer Sinn nimmt diesen Zufall auf, ihn und die geistige Gestaltung in eins umfassend, nicht mehr in menschlicher Zweckmäßigkeit, sondern in der Tiefe gegründet, wo diese und das Weben der unbewussten Naturkräfte ihrer gemeinsamen Wurzel entwachsen. Darum fehlt manchen römischen Ruinen, so interessant sie im übrigen seien, der spezifische Reiz der Ruine: insoweit man nämlich an ihnen die Zerstörung durch den Menschen wahrnimmt; denn dies widerspricht dem Gegensatz zwischen Menschenwerk und Naturwirkung, auf dem die Bedeutung der Ruine als solcher beruht.

Solchen Widerspruch erzeugt nicht nur das positive Tun des Menschen, sondern auch seine Passivität, wenn und weil der passive Mensch als bloße Natur wirkt. Dies charakterisiert manche Stadtruinen, die noch bewohnt sind, wie es in Italien abseits der großen Straße oft vorkommt. Hier ist das Eigentümliche des Eindrucks, dass die Menschen zwar nicht das Menschenwerk zerstören, dass vielmehr allerdings die Natur dies vollbringt – aber die Menschen lassen es verfallen. Dieses Geschehenlassen ist dennoch von der Idee des Menschen her gesehen sozusagen eine positive Passivität, er macht sich damit zum Mitschuldigen der Natur und einer Wirkungsrichtung ihrer, die der seines eigenen Wesens entgegengesetzt gerichtet ist. Dieser Widerspruch nimmt der bewohnten Ruine das sinnlich übersinnliche Gleichgewicht, mit der die Gegentendenzen des Daseins in der verlassenen wirken, und gibt ihr das Problematische, Aufregende, oft Unerträgliche, mit dem diese dem Leben entsinkenden Stätten nun doch noch als Rahmen eines Lebens auf uns wirken.

Anders ausgedrückt, ist es der Reiz der Ruine, dass hier ein Menschenwerk schließlich wie ein Naturprodukt empfunden wird. Dieselben Kräfte, die durch Verwitterung, Ausspülung, Zusammenstürzen, Ansetzen von Vegetation dem Berge seine Gestalt verschaffen, haben sich hier an dem Gemäuer wirksam erwiesen. Schon der Reiz der alpinen Formen, die doch meistens plump, zufällig, künstlerisch ungenießbar sind, beruht auf dem gefühlten Gegenspiel zweier kosmischer Richtungen: vulkanische Erhebung oder allmähliche Schichtung haben den Berg nach oben gebaut, Regen und Schnee, Verwitterung und Abfall, chemische Auflösung und die Wirkung allmählich sich eindrängender Vegetation haben den oberen Rand zersägt und ausgehöhlt, haben Teile des nach oben Gehobenen nach unten stürzen lassen und so dem Umriß seine Form gegeben. In ihr fühlen wir so die Lebendigkeit jener Richtungen verschiedener Energien und, über alles Formal-Ästhetische hinaus, diese Gegensätze in uns selbst instinktiv nachempfindend, die Bedeutsamkeit der Gestalt, zu deren ruhiger Einheit sie sich zusammengefunden haben. In der Ruine nun sind sie auf noch weiter distante Parteien des Daseins verteilt. Was den Bau nach oben geführt hat, ist der menschliche Wille, was ihm sein jetziges Aussehen gibt, ist die mechanische, nach unten ziehende, zernagende und zertrümmernde Naturgewalt. Aber sie lässt das Werk dennoch nicht, solange man überhaupt noch von einer Ruine und nicht von einem Steinhaufen spricht, in die Formlosigkeit bloßer Materie sinken, es entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt der Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert ist. Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte.

In der Schichtung von Natur und Geist pflegt sich doch, ihrer kosmischen Ordnung folgend, die Natur gleichsam als der Unterbau, der Stoff oder das Halbprodukt, der Geist als das definitiv Formende, Krönende darzubieten. Die Ruine kehrt diese Ordnung um, indem das vom Geist Hochgeführte zum Gegenstand derselben Kräfte wird, die den Umriß des Berges und das Ufer des Flusses geformt haben. Wenn auf diesem Wege eine ästhetische Bedeutung entsteht, so verzweigt sie sich in derselben Weise in eine metaphysische, wie die Patina auf Metall und Holz, Elfenbein und Marmor eine solche offenbart. Auch mit ihr hat ein bloß natürlicher Prozess die Oberfläche des Menschenwerks ergriffen und es von einer, die ursprüngliche völlig verdeckenden Haut überwachsen lassen. Die geheimnisvolle Harmonie: dass das Gebilde durch das Chemisch-Mechanische schöner wird, dass das Gewollte hier durch ein Ungewolltes und Unerzwingliches zu einem anschaulich Neuen, oft Schöneren und wieder Einheitlichen wird – das ist der phantastische und überschauliche Reiz der Patina. Diesen bewahrend aber gewinnt die Ruine nun noch den zweiten der gleichen Ordnung: daß die Zerstörung der geistigen Form durch die Wirkung der natürlichen Kräfte, jene Umkehr der typischen Ordnung, als eine Rückkehr zu der “guten Mutter” – wie Goethe die Natur nennt – empfunden wird. Dass alles Menschliche “von Erde genommen ist und zu Erde werden soll” erhebt sich hier über seinen tristen Nihilismus. Zwischen dem “noch nicht und dem “nicht mehr” liegt ein Positives des Geistes, dessen Weg jetzt zwar nicht mehr seine Höhe zeigt, aber von dem Reichtum seiner Höhe gesättigt, zu seiner Heimat herabsteigt – gleichsam das Gegenstück des “fruchtbaren Momentes”, für den jener Reichtum ein Vorblick ist, den die Ruine im Rückblick hat. Dass die Vergewaltigung des menschlichen Willenswerkes durch die Naturgewalt aber überhaupt ästhetisch wirken kann, hat zur Voraussetzung, daß an dieses Werk, so sehr es vom Geiste geformt ist, ein Rechtsanspruch der bloßen Natur doch niemals ganz erloschen ist. Seinem Stoffe, seiner Gegebenheit nach ist es immer Natur geblieben, und wenn diese nun ganz wieder Herr darüber wird, so vollstreckt sie damit nur ein Recht, das bis dahin geruht hatte, auf das sie aber sozusagen niemals verzichtet. Darum wirkt die Ruine so häufig tragisch – aber nicht traurig – weil die Zerstörung hier nichts sinnlos von außen Kommendes ist, sondern die Realisierung einer in der tiefsten Existenzschicht des Zerstörten angelegten Richtung. Deshalb fehlt der an die Tragik oder die heimliche Gerechtigkeit der Zerstörung geknüpfte, ästhetisch befriedigende Eindruck so oft, wenn wir einen Menschen als eine “Ruine” bezeichnen. Denn wenn auch hier der Sinn ist, dass die seelischen Schichten, die man im engeren Sinne als naturhaft bezeichnet: die dem Leibe verhafteten Triebe oder Hemmungen, die Trägheiten, das Zufällige, das auf den Tod Hinweisende, über die spezifisch menschlichen, vernunftmäßig wertvollen, Herr werden, so vollzieht sich damit für unser Gefühl eben nicht ein latentes Recht jener Richtungen. Ein solches ist vielmehr überhaupt nicht vorhanden. Wir erachten – gleichviel ob richtig oder irrig –, daß dem Menschenwesen solche dem Geiste entgegengerichteten Herabziehungen gerade seinem tiefsten Sinne nach nicht einwohnen; an alles Äußere haben sie ein Recht, das mit ihm geboren ist, aber an den Menschen nicht. Darum ist der Mensch als Ruine, abgesehen von Betrachtungen aus anderen Reihen und Komplikationen her – so oft mehr traurig als tragisch und entbehrt jener metaphysischen Beruhigtheit, die an dem Verfall des materiellen Werkes wie von einem tiefen Apriori her haftet.

Jener Charakter der Heimkehr ist nur wie eine Deutung des Friedens, dessen Stimmung um die Ruine liegt – die neben der andern steht: dassjene beiden Weltpotenzen, das Aufwärts-Streben und das Abwärts-Sinken, in ihr zu einem ruhenden Bild rein naturhaften Daseins zusammenwirken. Diesen Frieden ausdrückend ordnet sich die Ruine der umgebenden Landschaft einheitlich, und wie Baum und Stein mit ihr verwachsen, ein, während der Palast, die Villa und selbst das Bauernhaus, noch wo sie sich am besten der Stimmung ihrer Landschaft fügen, immer einer andern Ordnung der Dinge entstammen und mit der der Natur nur wie nachträglich zusammengehen. An dem sehr alten Gebäude im freien Lande, ganz aber erst an der Ruine, bemerkt man oft eine eigentümliche koloristische Gleichheit mit den Tönen des Bodens um sie herum. Die Ursache muss irgendwie der analog sein, die auch den Reiz alter Stoffe ausmacht, so heterogen ihre Farben im frischen Zustande waren: die langen gemeinsamen Schicksale, Trockenheit und Feuchtigkeit, Hitze und Kälte, äußere Reibung und innere Zermürbung, Jahrhunderte hindurch sie alle treffend, haben eine Einheitlichkeit der Tönung, eine Reduktion auf den gleichen koloristischen Generalnenner mit sich gebracht, die kein neuer Stoff imitieren kann. Ungefähr so müssen die Einflüsse von Regen und Sonnenschein, Vegetationsansatz, Hitze und Kälte das ihnen überlassene Gebäude dem Farbton des denselben Schicksalen überlassenen Landes angeähnlicht haben: sie haben sein ehemaliges gegensätzliches sich herausheben in die friedliche Einheit des Dazugehörens gesenkt.

Und noch von einer anderen Seite trägt die Ruine den Eindruck des Friedens. Auf der einen Seite jenes typischen Konfliktes stand seine rein äußerliche Form oder Symbolik: der durch Aufbau und Einstürzen bestimmte Umriss des Berges. Nach dem anderen Pole des Daseins aber hin gerichtet, lebt er ganz innerhalb der menschlichen Seele, diesem Kampfplatz zwischen der Natur, die sie selbst ist, und dem Geiste, der sie selbst ist. An unsrer Seele bauen fortwährend die Kräfte, die man nur mit dem räumlichen Gleichnis des Aufwärts Strebens benennen kann, fortwährend durchbrochen, abgelenkt, niedergeworfen von der andern, die als unser Dumpfes und Gemeines und im schlechten Sinne “Nur-natürliches” in uns wirken. Wie sich diese beiden nach Maß und Art wechselnd mischen, das ergibt in jedem Augenblick die Form unsrer Seele. Allein niemals gelangt sie, weder mit dem entschiedensten Sieg der einen Partei noch mit einem Kompromiß beider, zu einem endgültigen Zustand. Denn nicht nur die unruhige Rhythmik der Seele duldet keinen solchen; sondern vor allem: hinter jedem Einzelereignis, jedem Einzelimpulse aus der einen oder der andern Richtung steht etwas weiter Lebendes, stehen Forderungen, die die jetzige Entscheidung nicht zur Ruhe bringt. Dadurch bekommt der Antagonismus beider Prinzipien etwas Unabschließbares, Formloses, jeden Rahmen Sprengendes. In dieser Unbeendbarkeit des sittlichen Prozesses, in diesem tiefen Mangel abgerundeter, zu plastischer Ruhe gelangter Gestaltung, den die unendlichen Ansprüche beider Parteien der Seele auferlegen, besteht vielleicht der letzte formale Grund für die Feindschaft der ästhetischen Naturen gegen die ethischen. Wo wir ästhetisch anschauen, verlangen wir, dass die Gegensatzkräfte des Daseins zu irgend einem Gleichgewicht, der Kampf zwischen Oben und Unten zum Stehen gekommen sei; der gegen diese, allein eine Anschauung gewährende Form wehrt sich der sittlich-seelische Prozeß mit seinem unaufhörlichen Auf und Nieder, seinen steten Grenzverschiebungen, mit der Unerschöpflichkeit der in ihm gegenspielenden Kräfte. Den tiefen Frieden aber, der wie ein heiliger Bannkreis die Ruine umgibt, trägt diese Konstellation: dass der dunkle Antagonismus, der die Form alles Daseins bedingt, – einmal innerhalb der bloßen Naturkräfte wirksam, ein anderes Mal innerhalb des seelischen Lebens für sich allein, ein drittes Mal, wie an unserm Gegenstand, zwischen Natur und Materie sich abspielend – dass dieser Antagonismus hier gleichfalls nicht zum Gleichgewicht versöhnt ist, sondern die eine Seite überwiegen, die andere in Vernichtung sinken läßt und dabei dennoch ein formsicheres, ruhig verharrendes Bild bietet. Der ästhetische Wert der Ruine vereint die Unausgeglichenheit, das ewige Werden der gegen sich selbst ringenden Seele mit der formalen Befriedigheit, der festen Umgrenztet des Kunstwerks. Deshalb fällt, wo von der Ruine nicht mehr genug übrig ist, um die aufwärts führende Tendenz fühlbar zu machen, ihr metaphysisch-ästhetischer Reiz fort. Die Säulenstümpfe des Forum Romanum sind einfach hässlich und weiter nichts, während eine etwa bis zur Hälfte abgebröckelte Säule ein Maximum von Reiz entwickeln mag.

Man wird freilich jene Friedlichkeit gern einem anderen Motiv zuschreiben: dem Vergangenheitscharakter der Ruine. Sie ist die Stätte des Lebens, aus der das Leben geschieden ist – aber dies ist nicht bloß Negatives und Dazugedachtes, wie bei den unzähligen, ehemals im Leben schwimmenden Dingen, die zufällig an sein Ufer geworfen sind, aber ihrem Wesen nach ebenso wieder von seiner Strömung ergriffen werden können. Sondern daß das Leben mit seinem Reichtum und seinen Wechseln hier einmal gewohnt hat, das ist unmittelbar anschauliche Gegenwart. Die Ruine schafft die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als solcher. Dies ist auch der Reiz der Altertümer, von denen nur eine bornierte Logik behaupten kann, dass eine absolut genaue Imitation ihnen an ästhetischem Wert gleichkäme. Gleichviel, ob wir im einzelnen Falle betrogen sind – mit diesem Stück, das wir in der Hand halten, beherrschen wir geistig die ganze Zeitspanne seit seiner Entstehung, die Vergangenheit mit ihren Schicksalen und Wandlungen ist in den Punkt ästhetisch anschaulicher Gegenwart gesammelt. Hier wie gegenüber der Ruine, dieser äußersten Steigerung und Erfüllung der Gegenwartsform der Vergangenheit, spielen so tiefe und zusammenfassende Energien unserer Seele, dass die scharfe Scheidung zwischen Anschauung und Gedanke völlig unzureichend wird. Hier wirkt eine seelische Ganzheit, und befasst, wie ihr Objekt die Gegensätze von Vergangenheit und Gegenwart in eine Einheitsform verschmilzt, die ganze Spannweite des körperlichen und des geistigen Sehens in die Einheit ästhetischen Genießens, das ja immer in einer tieferen als der ästhetischen Einheit wurzelt.

So lösen Zweck und Zufall, Natur und Geist, Vergangenheit und Gegenwart an diesem Punkte die Spannung ihrer Gegensätze, oder vielmehr, diese Spannung bewahrend, führen sie dennoch zu einer Einheit des äußeren Bildes, der inneren Wirkung. Es ist, als müsste ein Stück des Daseins erst verfallen, um gegen alle, von allen Windrichtungen der Wirklichkeit herkommenden Strömungen und Mächte so widerstandslos zu werden. Vielleicht ist dies der Reiz des Verfalles, der Dekadenz überhaupt, der über ihr bloßes Negatives, ihre bloße Herabgesetztheit hinausreicht. Die reiche und vielseitige Kultur, die unbegrenzte Beeindruckbarkeit und das überall hin offene Verstehen, das dekadenten Epochen eigen ist, bedeutet eben doch jenes Sich Zusammenfinden aller Gegenstrebungen. Eine ausgleichende Gerechtigkeit knüpft das hemmungslose Zusammen alles auseinander und gegeneinander Wachsenden an den Verfall jener Menschen und jenes Menschen Werkes, die jetzt nur noch nachgeben, aber sich nicht mehr aus ihrer eigenen Kraft heraus ihre eigenen Formen schaffen und erhalten können.

Georg Simmel (1858–1918): Two Essays. The Handle, and The Ruin. The Hudson Review, Vol. XI, No 3, Autumn 1958, p. 371.
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